Antarktis Stadt
 
Donnerstag, 9. März 2006



Vor 20 Jahren und einem Tag gestorben: Hubert Fichte

Dazu heute eine Veranstaltung in der Literaturwerkstatt Berlin, auf die Roland ja auch hingewiesen hatte. Jan-Frederik Bandel, Kathrin Röggla, Thomas Meinecke lasen und diskutierten unter Leitung von Ina Hartwig. Soviel zur feuilletonistischen Einleitung. Beim nächsten Mal schreibe ich auch noch mit Komma abgetrennt dahinter, was sie sind, Suhrkampautor, Autorin, FR-Literaturredakteurin, Dissertationsschreibender zu Fichte, bitte selber zuordnen.

(Es ist mir kaum möglich, über diesen Abend zu schreiben, weil mir meine Sprache, mein "Stil" nach einem Abend voller Fichtetexte so unangemessen, klein, schwammig und langweilig vorkommt, dass ich mit malorama immer fast aufhören möchte, selber zu schreiben.)

Vor Beginn war ein Portraitphoto Hubert Fichtes mit Beamer auf eine grosse Leinwand hinter der leeren Bühne geworfen, mit der Unterschrift "DER SCHWARZE ENGEL". Langsam füllte sich der Saal, alle sassen nach vorne ausgerichtet, sahen das Bild an und warteten auf den Beginn der Veranstaltung. Fichte sah vom Photo aus zurück, eigentlich leicht über unsere Köpfe, er sah leicht arrogant aus und sehr gut, trotz oder wegen des Bartes, den er in meiner Vorstellung ja nie trägt. Überhaupt ist Fichte schwer zu photographieren gewesen, glaube ich, er sah auf Bildern nie aus, wie er in echt aussah. Der zu Anfang gezeigte Film, der Ausschnitte der Lesung im Star Club 1966 zeigte, hat mich in dieser Vorstellung bestätigt, der bewegte Fichte sah sehr anders aus als der photographierte, wenn er fast spitzbübisch mit Strohhalm aus einer Colaflasche trank und von schräg unten den Sänger der Zwischenbänd anschaute. Leicht lächelte, wenn er vom Mikrophon zurücktrat. Konzentriert las, seine rechte Augenbraue zuckte manchmal hoch dabei, als setze sie einen Akzent.

Einführung Fichtes durch die Moderatorin. Statements und Lesung von Passagen aus Fichtebüchern durch die geladenen Autoren. Alles sehr interessant und sehr literaturwissenschaftlich. Sog der Subjektivität. Einnehmen von multiplen Autorpositionen. Literarisierung der eigenen Biographie. Verschwulung der Welt als politische Utopie. Alle sind mit Begeisterung dabei, alle verehren Fichte, es gibt kleine Meinungsunterschiede, aber keine Kontroversen. Ina Hartwig ist etwas sehr hetero-gediegen, ob Fichte nicht die Utopie gehabt habe, Promiskuität und Zärtlichkeit zu verbinden? Das scheint für sie unvorstellbar zu sein, dabei ist gerade die Zärtlichkeit anonymer Begegnungen bei Fichte doch zu lesen wie nirgends sonst. Die Zärtlichkeit und die Grausamkeit. Zwei unangenehm laut tuschelnde schwarze Anzugsherren in der ersten Reihe ruft sie gleich mal namentlich zur Ruhe, der eine äußert sich dann mit einem rechthaberischen "Ich-war-dabei"-Ton als Zeitgenosse Fichtes, der uns mal erklärt, wie das damals wirklich war.

Die drei Autoren/innen sprechen sehr interessant. Ich möchte hin und wieder auch etwas sagen, den ganzen Tag hatte ich Blockseminar und da habe ich immer zu allem meine Meinung gesagt, das Ambiente ist doch eher frontal. Ein paar Fragen, ein paar Antworten, dann werden wir verabschiedet. Zwei Stunden.

Zwei Überlegungen:

  • Ich finde es falsch, Fichte als "Schwulen" oder noch schlimmer als "Schwulenrechtler" zu vereinnahmen. Eine Vereinfachung und Verflachung seiner Texte, seines Lebens, die schnell dazu führt, ihm die Aktualität vorzuenthalten. Da gab es einen Moment, an dem Ina Hartwig sagte: Na heute sei das ja auch ganz anders mit den Schwulen, die wären ja damals so unterdrückt gewesen, da sei Fichte ja schon sehr an seine Zeit gebunden. Dass Fichte mit seiner "Verschwulung der Welt", wenn man das denn unbedingt als zentralen begriff sehen will, viel mehr meint, dass er für die Rechte und die Würde aller kämpft, die jenseits von Konventionen leben, gegen diese Konventionen, gegen die erstarrten Riten, das geht so verloren.
  • Die Fixierung auf Fichtes Biographie. Ich habe Fichte angefangen zu lesen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wer er war, wer Leonore Mau ist, wer sich hinter der Figur Pozzi verbirgt (Wenn man das so sagen kann, als seien Fichtes Texte ein einziger Enthüllungs- oder Schlüsselroman. Ich glaube nicht.) geschweige denn, wem die ganzen Leute nachgebildet waren, die z. B. in den Texten vorkommen, die Jäckis Zeit in Rom als Stipendiat der Villa Massimo erzählen. Und ich glaube auch, dass das völlig egal ist, dass die Texte für sich stehen. Natürlich erfährt man mit der Zeit einiges, aus den Texten selbst, aus den editorischen Notizen, aus den sekundären Texten. Dass Jäcki ein Alter Ego Fichtes ist, ebenso wie Detlef. Dass Irma Leonore Mau nachgeformt ist. Dass Fichte Interviews, dokumentarische Texte, Fiktion, Bezüge auf Menschen und Figuren, auf Dichter, Autoren, Bücher, Orte usw. in seine Texte einbaut. Ein neue Art zu schreiben suchte, die der Realität gerecht wird, indem sie nicht sie, sondern ihre Komplexität nachbildet. Und dafür ist es mir erstmal ganz egal, ob Wolli heute Privatier ist oder wer beim Literarischen Colloquium Berlin wer ist. Mag sein, dass mir damit eine Dimension der Texte verschlossen bleibt, die zeitgebundene, dokumentarische, literaturbetriebsbezogene. Dafür bleibt mein Blick klar für die fortdauernde Schönheit, Bedeutung und (ja, ich schreibe es, auch wenn es ein grosses Wort ist:) Universalität von Fichtes Texten.

Während der Lesung zwei Männern, die an mir vorbei den Mittelgang hinunter zur Toilette gehen, auf den Schritt geschaut. Beide Male überlegt, ihnen nachzugehen. Doch die Literaturwerkstatt hat nur eine einzelne, abschliessbare Herrentoilette, keine Pissoirs, an denen man im Gedenken an Fichte hätte stehen können, nebeneinander.

 
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soweit der plan mit diesem allerrührendsten aller lieder das bloggerleben zu beenden. ist jetzt der dringenden drang dazwischengekommen ("der dringende drang", sollte ich mal einen roman schreiben, der so heisst; oder so). satzzeichenverwirrung. auf jeden fall wollte ich mitteilen, dass ich dieses wochenende in berlin gedenke, mich aber sowas von...
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wenn der kater sich langsam verabschiedet, immer dieser heisshunger nach pizza. so stell ich mir die gelüste schwangerer frauen vor.
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