Antarktis Stadt
 
Sonntag, 11. Juni 2006



Parada Równosci - CSD Warschau 2006 - in (lang nicht allen!) Details

  • Prolog: Ich poste jetzt mal meinen Eintrag, ohne vorher den von Giles gelesen zu haben, also entschuldigt bitte Dopplungen. Oder deutet sie als Seelenverwandtschaft.

  • Als Parka, Giles und ich um 21h am Treffpunkt ankommen, weiß keiner so recht, was zu tun ist. Also fragen wir einen, der da auch so rumsteht, wie das alles so geht. Großer Glücksfall Nummer Eins. Der Angesprochene weiß zwar auch nicht mehr, ist aber ansonsten der ideale neue Freund für diese Reise. Raffael, Rafal auf polnisch, aber frag mich nicht, wie man das durchgestrichene l schreibt, ist Pole, lebt seit drei Jahren in Berlin und ist auch ganz froh, dass wir uns gleich mal ein bisschen mit ihm anfreunden. Wir bekommen Plätze an einem Tisch in einer Vierergruppe angewiesen und können den eigentlichen Vierten zu einem Platztausch bewegen, so dass Rafi bei uns sitzen kann. Nachdem er erst verkündet, er könne ihm Bus sowieso nie schlafen, mischt er sich einen Wodka-Orangensaft nach dem anderen und uns immer gleich mit, bis alle der Reihe nach aussteigen, dabei hat er uns sowieso immer „Kinderportionen“ Wodka (laut Giles) gemischt und sich „Erwachsenenmischungen“. Prompt schläft er am besten und meisten, ich vielleicht so ein, zwei Stunden, aber mehr schlecht als recht. Endlich Ankunft in Warschau, gegen 8.30h. Die Strapazen und Absurditäten der Busfahrt kann ich nicht angemessen schildern. Die Stimmung ist aber schon gespannt... keiner weiß, womit zu rechnen ist. Hoffe auf das Beste und rechne mit dem Schlimmsten, so weit ich Naivchen mir das überhaupt vorstellen kann.

  • Meine Sicherheitsvorkehrungen erwiesen sich schnell als unnötig, unsinnig oder kontraproduktiv. Kurz nachdem ich meine Einweg-Kontaktlinsen drin hatte („Wenn mich jemand zusammenschlägt, ist es besser, keine Brille zu tragen, damit die nicht kaputtgeht und ich nicht die Scherben ins Auge oder so bekomme...“ dachte ich), sagte Rafi, dass es in Polen sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz ist, keine Brillenträger zu schlagen, weil das vor Gericht immer streng geahndet wird, so dass die Brille eher Schutz bedeutet hätte. Kam zum Glück ja nicht dazu... Meine Digitalkamera nicht mitzunehmen („Ich kauf mir lieber Einwegkameras, damit die Digitale nicht kaputtgeht, und außerdem kann ich ohne Aufnahmeverzögerung schneller abdrücken, sollte ich in einer Gefahrensituation potentielle Angreifer fotografieren müssen“ dachte ich) war völlig unnötig, ich habe die Bilder jetzt noch nicht, aber das analoge Knipsen machte mir Spass wie Fotografieren lange nicht mehr und ich hoffe, die Bilder sind was geworden. Meinen Mitreisenden die Nummern meiner Schwester und von F. zu geben, war auch eher Formsache, damit die mir später im Zweifelsfalle nicht sagen könnten, ich hätte besser mal gemacht, wie sie gesagt haben. Von dem CS-Gas-Spray, das ich mir auf Anregung F.s noch gekauft habe und heimlich dabei hatte, will ich gar nicht erst anfangen... Schön war aber, dass wir gleich im Bus alle mit Rafi Nummern tauschen konnten und uns so an ihn hätten wenden können, wenn wir Hilfe gebraucht hätten. Super Maßnahme, Bekanntschaften anzubahnen, dafür gab es extra Flugblätter, auf denen auch die Hauptgegner und das Verhalten in allen möglichen zu erwartenden Lebenslagen beschrieben war.

  • Aber ich hab als Einziger keinen Sonnenbrand bekommen, weil ich Sonnencreme dabei und rechtzeitig aufgetragen hatte.

  • Kurzes Kaffeetrinken und Zähneputzen in einem Coffeeshop in der Nähe des Hotels, an dem wir ankamen und unser Gepäck deponieren können. Dann setzen wir uns mit Rafi von der großen Gruppe ab (Großer Glücksfall Nummer Zwei, zu viert ist es viel schöner und entscheidungsleichter) und spazieren erstmal noch drei Stunden durch ein wunderschönes, freundliches, attraktives Warschau voller netter Menschen, die einem Postkarten (ok, mit dem Papst drauf, aber immerhin...) schenken oder kleine Erdbeertörtchen, wenn man in der Bäckerei was kauft. Alle Polen sind nett, Warschau ist die schönste Stadt der Welt. Überhaupt ein Tag der Superlative, der gesprochenen vor allem. Kaum ein Satz komm ohne, plus Zusatz „der Welt“ aus.

  • Um 12 Uhr Treffpunkt der Berliner Gruppe am Hotel, um gemeinsam zum Startpunkt der Parade vor dem Seijm, dem polnischen Parlament zu gehen. Ganz schön aufregend langsam. Wir, ungefähr 200 Leute, würde ich schätzen, fallen enorm auf. Die Passanten schauen, als hätten sie noch nie einen Schwulen oder eine Lesbe gesehen, der/die sich traut, offen eine/r zu sein. Was ja auch so sein dürfte. Einige schauen neugierig, einige irritiert, ein alter Mann steigt aus seinem Auto, schleudert uns die geballte Faust immer wieder entgegen und brüllt uns als Schwuchteln und Terroristen an. Ohne Rafi hätten wir gar nichts verstanden... war aber auch nicht nötig, alles haarklein zu verstehen, die Botschaft kam schon an. Eigentlich war das der aufregendste Teil, wir liefen auch noch ohne Polizei durch die Gegend und theoretisch hätte da was passieren können, andererseits hätte man schon ziemlich viele Rechte oder Skinheads gebraucht, um uns gefährlich werden zu können. Die Macht der Gruppe, sehr beruhigend. Rafi vor allem, der das erste Mal offen als Schwuler in Polen auftritt, ist ganz schön nervös und gekickt, aber ich auch, und Parka und Giles auch, glaub ich, und eigentlich alle. Die Anstrengungen der Nacht und des Vormittags in Warschau werden aber langsam durch Aufregung überlagert. Alles ist offen, alles könnte passieren, aber wir sind erstmal guter Dinge.

  • Das schönste T-Shirt: hellblau mit (auf polnisch) „Wer liebt, hat recht“ vorne drauf.

  • Wir haben gar nichts, aber immerhin können wir später T-Shirts und Buttons kaufen und Aufkleber von der grünen „Gay Solidarnosc“-Gruppe aus Hamburg bekommen. Sonst viele Fahnen, Plakate, Trillerpfeifen... vor allem die Schwusos tun sich durch das unsinnige, gehäufte Tragen von SPD-Fahnen hervor. (Ein älterer Pole fragt mich später während der Parade auch gleich mal etwas verunsichert, was das für eine Gruppe sei, die könne er keiner polnischen Gruppierung zuordnen, diese Buchstaben...)

  • Großer Glücksfall Nummer Drei: In dem Park, in dem sich alle treffen und die Parade startet, treffe ich zufällig gleich mal Weronika, den einzigen Menschen, den ich in Warschau kenne. Wroni studiert eigentlich mit uns in Berlin, ist aber (halbe? Weiß ich nie genau...) Polin und verbringt gerade ein Jahr mit Erasmus in Warschau. Sie ändert ihren Plan, im Park gemütlich ein Buch zu lesen, spontan und läuft die ganze Parade mit uns und danach noch weiter durch Warschau, empfiehlt Lokale, übersetzt und ist überhaupt unheimlich nett. Die Parade startet, es gibt zwei Wägen, einen mit Musik und Prominenten (Die deutschen Grünen sind gut vertreten, mit Renate Künast, Volker Beck und Claudia Roth, die sich extra neue kupferfarbene Strähnchen gefärbt hat, damit ihre Frisur so strahlt wie sie Begeisterung aus.), einen mit Musik und Pol/innen. Sogar Gloria Gaynor fast gut gefunden, wenn „I Am What I Am“ und „I Will Survive“ auf einmal wieder wie politische Songs klingen...

  • Sowieso den ganzen verwöhnten deutschen CSD-Überdruss sofort abgestreift. Kein Jammern über Kommerzialisierung, keine dämlichen Streits um Motto und Grad der Politisierung, keine immergleichen Lieder, Transen, Lederkerle, Körperbeschau, keine sektgesättigte Routine.

  • Die Polizisten sind alle ganz in Schwarz, mit Brustpanzern, Schlagstöcken, Helmen am Gürtel, volle Montur, ziemlich martialisch. Sie verhalten sich einwandfrei, begleiten den ganzen Zug, sind sehr präsent, verziehen aber keine Miene. Kein einziger. Ob sie Angst hatten vor den Schwulen oder wie sie das fanden, keine Chance, irgendwas zu erkennen. Eiskalt, aber korrekt. In zweieinhalb Stunden Parade laufen wir an vier oder fünf Gegenveranstaltungen vorbei, die aus drei bis vielleicht 20 Leuten jeweils bestehen, die mehr oder weniger hässliche und dumme Plakate hochheben. Am besten: „God created Adam and Eve. Not Adam and Steve!“, am schlimmsten: „Zoophilia Next“. Wenn wir vorbeilaufen, buhen wir sie immer ganz laut aus, oder winken ihnen und lachen, oder (für meinen Geschmack aber viel zu wenig und selten) skandieren auf polnisch „Kommt mit uns!“ Ich hätte gerne mehr skandiert oder gesungen oder so. Die Leute von den Gegendemonstrationen (-demonstratiönchen eher...) sehen teils ganz durchschnittlich aus, teils sind es Glatzen. Erstaunlich wenig religiöser Widerstand, niemand betet oder hat christliche Symbole oder den Papst dabei oder so. Schön ist, dass wir an mehreren Stellen an Plakaten des Papstbesuchs vorbeiziehen, der segnend seine Arme ausbreitet und sagt: Bleibt stark im Glauben“ oder so. Da posieren die Teilnehmer der Parade, in Fummel oder ohne, begeistert davor, für private Bilder und die Presse.

  • Viel Presse überhaupt, Rundfunk, etwas Fernsehen, ein ORF-Reporter ist viel zu sehen, Rafi wird von einer polnischen Radiostation interviewt und schlägt sich tapfer.

  • Großer Glücksfall Nummer Fünf: Das Winken. Irgendwann fangen wir an, den am Strassenrand Stehenden, in Trambahnen Vorbeifahrenden und vor allem denen, die aus den Fenstern beobachten, freundlich zuzuwinken. Viele reagieren gar nicht, einer zeigt wahrscheinlich zwei Stunden lang beide Mittelfinger aus dem Fenster und brüllt Zoten aus dem Fenster, währen seine Freundin hinter ihm versucht, ihn zu beruhigen („Manfred, jetzt hör doch auf, das reicht doch jetzt, was sollen die Nachbarn denken, reg dich doch nicht so auf...“), aber erstaunlich viele winken freundlich zurück. Dann brandet immer Jubel auf und alle klatschen und winken noch stärker. Gänsehautmomente. Eine alte Frau hat ihre Katze auf dem Arm und winkt mit deren Pfote. „Hooray for the cat!“-Rufe, Lachen, Freude. Die Stimmung wird immer gelöster. Wir schlagen alle Warnungen der Infoflyer in den Wind („Verlasst nie die Parade, auch nicht um schnell aufs Klo zu gehen oder einen Falaffel zu kaufen! Hakt euch ein! Ruft ganz oft hintereinander laut Euren Namen, wenn ihr verhaftet werdet!“) und kaufen uns nach der Hälfte am Strassenrand erstmal Bier, Cola und Wasser. Auch wenn ich auf der Rückfahrt dann in einer Unterhaltung auf einem der ungezählte Raststätten einem Mitreisenden Recht geben muss, dass es gut war, dass das Ganze eben keine Spass- und Saufveranstaltung war, tat das uns allen in Maßen echt gut.

  • Großer Glücksfall Nummer Sechs: Bis auf kleine Ausnahmen ist alles friedlich geblieben und es waren unheimlich viele Leute, ich habe jetzt Teilnehmerzahlen von 5 000 bis 30 000 gelesen, wobei ich denke, es liegt irgendwo dazwischen, aber näher bei 5 000. Ein Riesenerfolg. Die Parade war fröhlich, bunt, sympathisch, gemischt, ernst, politisch und nicht zu übersehen. Die Gegenveranstaltungen kamen nicht gut weg, bei mir sowieso natürlich nicht, aber ich hoffe, auch die Medien und Öffentlichkeit werden nicht darüber hinwegsehen können, dass wir einfach nur elementare Menschenrechte einforderten und niemandem etwas Böses wollten, während die anderen verklemmte, intolerante und in letzter Instanz ebenso dumme wie bemitleidenswerte Fanatiker waren. Dieses ganze Getue, als würden Schwule und Lesben die Familie, die Religion und den polnischen Staat zerstören wollen, und alle Kinder homosexuell machen wollen. Die Europafeindlichkeit („Eurosodoma halt!“ war eines der Gegenplakate). Die Angst und die platte Homophobie. Die lächerliche bedrohte Männlichkeit, die natürlich nicht mehr lächerlich ist, wenn sie in Hass und Gewalt umschlägt. Rafi erzählte auch, viele kleine Politiker vor allem aus ländlichen Regionen seien auf das Thema aufgesprungen, um sich zu profilieren. Im Großen konnte man aber den Eindruck haben, dass die Gegner nicht die Mehrheit waren, dafür haben zu viele Leute neutral oder überrascht oder positiv reagiert. Schwer zu sagen, wie das ohne das massive und sehr effektive Polizeiaufgebot ausgesehen hätte. Aber das ist auch ein Erfolg, das der Staat seine Pflicht, die Parade zu schützen, so ernst und wahrgenommen hat.

  • Danach: Essen in der Altstadt mit der gleichen Viererbande, die überhaupt der größte Glücksfall der ganzen Fahrt war und ist. Vergebene Suche nach religiösen Devotionalienhandlungen, die noch offen sind. Kaffeetrinken. Mit zunehmender Müdigkeit zunehmen hysterisch alberner. Rafi erwirbt sich den Zunamen „The Man“ durch diverse Coole-Sau-Aktionen, eine Unverfrorenheit besitzt der Gute, auf die ich neidisch bin, und das will was heißen. Leider fährt er nicht mit uns zurück, sondern bleibt in Warschau bei einer Freundin, begleitet uns aber trotzdem geduldig durch den Supermarkt, in dem Parka und Giles haarklein jedes Regal begutachten wollen und ich am liebsten sofort wieder raus, Supermarkt-Koller, wechselt uns nochmal Geld, damit wir noch Wodka und Zigaretten kaufen können und ist überhaupt eben einfach „The Man“. Zum Glück wohnt er in Berlin, ein echter Gewinn und damit Glücksfall Nummer äh Sieben? Sechs? Egal, langweilt eh inzwischen, dieses gekünstelte Leitmotivgetue.

  • Wichtige Stilmittel der Fahrt:

  • Superlativ + „der Welt“ (s.o.): die coolste Stadt der Welt, die schönste Kellnerin der Welt, die nettesten Menschen der Welt usf.
  • Substantiv + „des Grauens“ (vgl. „der Terrier des Grauens“, der in den deaktivierten Tiefen der Vermittlungsarchive ruht, leider, sonst hätte ich ihn verlinkt...): Die Busfahrer des Grauens, die Raststätte des Grauens, die aufdringliche Mitreisende des Grauens usf.
  • „Wir sind super!“, „Rafi (oder Raf) is The Man!“, „Big Time“ usf.
  • Klassenfahrtvergleiche. Die passen durchweg, vor allem jetzt auch auf das Gefühl, dann auf einmal allein zu hause zu sitzen, sich ganz leer zu fühlen ohne die anderen und nichts mit sich allein anfangen zu können. Schön durch gemeinsames Bloggen zu vertreiben oder dadurch, sich einfach sofort wieder für heute abend zu verabreden.
  • Oh hätten wir doch mobil tuggen können aus dem Bus auf der Rückfahrt! Das Lexikon „Der Lautstrom“ und ungezählte andere Perlen sind unwiederbringlich dahin. Wir hätten tug zum Kollabieren gebracht, glaube ich. So wie unsere Nachbarn im Bus und dann uns selbst.

  • Wie Michael Jackson, der als Jackenvorbild auch eine Rolle spielte, sagen würde: I love you all! Aber besonders dich, dich und dich.

  • Bis nächstes Jahr, Parada Równosci und bis bald, Warschau!

 
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soweit der plan mit diesem...
soweit der plan mit diesem allerrührendsten aller lieder das bloggerleben zu beenden. ist jetzt der dringenden drang dazwischengekommen ("der dringende drang", sollte ich mal einen roman schreiben, der so heisst; oder so). satzzeichenverwirrung. auf jeden fall wollte ich mitteilen, dass ich dieses wochenende in berlin gedenke, mich aber sowas von...
by lmd78 (19.06.08, 18:50)
to the end
by lmd78 (13.06.08, 12:17)

by lmd78 (20.04.08, 12:46)
wenn der kater sich langsam...
wenn der kater sich langsam verabschiedet, immer dieser heisshunger nach pizza. so stell ich mir die gelüste schwangerer frauen vor.
by lmd78 (15.04.08, 12:10)
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von trauer zu trotz.
by lmd78 (10.04.08, 09:27)
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by lmd78 (08.04.08, 09:45)




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